Autoren V-Z / W / Rolf Wernstedt
Wernstedt, Rolf: Politische Identität und Geschichte - Nachdenken über unsere Zeit
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Rolf Wernstedt
Über unsere Zeit nachdenken - das ist das zentrale Anliegender hier versammelten Reden und Aufsätze. Ausgehend von einem persönlichen Erlebnis wird diese Erfahrung ins Allgemeine gewendet, um Hinweise für künftiges Verhalten und Handeln zu gewinnen. Die Texte entfalten über den tagesaktuellen Anlass hinaus Perspektiven, denen gemeinsam ist, dass sie "Denken als Anwendung von Wissen" postuliert und so ihrerseits wieder Anstöße zum Nachdenken bieten. Die persönliche Identität des homo politicus Wernstedt wird auf diese Weise zur Folie, auf der (zeit-)geschichtliche Prozesse zum Vorschein kommen.
INHALTSVERZEICHNIS
Heinz Thörmer: Nachdenken über unsere Zeit . . . . . . 7 I. Die eigenen Erfahrungen als Folie. Autobiografisches . 13 Abitur in Beetzendorf (DDR) 1958 – und die Folgen 13 Studium in Göttingen . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 II. Erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Auschwitz: die Verantwortung bleibt . . . . . . . . . 25 Bergen-Belsen: »Haus der Stille« . . . . . . . . . . . 27 Rechtsradikalismus – und kein Ende? . . . . . . . . . 29 Deutschland und Polen – eine schwierige Nachbarschaft 40 III. Glaubwürdigkeit in der Politik . . . . . . . . . . . . 53 Linke Gesinnung und praktisches Handeln . . . . . . 53 Glaubwürdigkeitsprobleme der Politik. Überlegun- gen zur Spendenaffäre . . . . . . . . . . . . . . 65 Wahlkampf und das 8. Gebot . . . . . . . . . . . . . 73 Verständigen durch Verstehen. Politik und politische Kultur in der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . . 79 IV. Portraits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Verbindlichkeit und Toleranz: Bernhard Kreibohm . 85 Ethischer Sozialist: Alfred Kubel . . . . . . . . . . . 86 Zupackender Pragmatiker: Gerhard Schröder . . . . 91 Die Unruhe der Theorie: Oskar Negt . . . . . . . . . 95 V. Vom Fall der Mauer zur Transformation der Systeme 97 Der 9. November 1989 und seine Geschichte . . . . . 97 Deutschland zwischen gestern und morgen . . . . . . 102 Nach dem Ende der Zweistaatlichkeit: Vermittlungs- probleme der doppelten Geschichte in Schule und politischer Bildung . . . . . . . . . . . . . 107 Transformationsprobleme in der Demokratie. Beispie- le nach der Wende 1989–1990 in Deutschland und in Mittel-Ost-Europa . . . . . . . . . . . . 120 VI. Lernen aus unserer Geschichte . . . . . . . . . . . . 129 Der ferne Goethe oder was ist wesentlich? . . . . . . 129 Das Urteil über die Vergangenheit als Zumutung für Gegenwart und Zukunft . . . . . . . . . . . . . 144 Menschen brauchen Werte. Die gemeinsame Verant- wortung der Religionen in Deutschland . . . . . 150 Sind Orient und Okzident Gottes oder des Teufels? Historische und religiöse Anmerkungen zu einer eineinhalb Jahrtausende alten Beziehungsgeschichte mit aktueller Sprengkraft . . . . . . 157 300 Jahre Act of Settlement . . . . . . . . . . . . . . 164 VII. Was heißt Bildung heute? . . . . . . . . . . . . . . 169 Was können Bildung und Ausbildung heute leisten? 169 Zwischen Kontinuität und Innovation . . . . . . . . . 181 »Bildungspolitik« – ein Widerspruch in sich . . . . . 188 PISA: Eine Aufforderung zum Denken . . . . . . . . 198 VIII. Über den Tag hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Zur Zeitgemäßheit der Bibellektüre . . . . . . . . . . 207 Möglichkeiten und Grenzen der Stammzellenforschung 211 Haben wir es schon begriffen? Die Reaktionen auf den Terroranschlag vom 11. 9. 2001 und ihre Auswir- kungen auf die Gesellschaft in Deutschland . . 217 Leben zwischen geforderter Flexibilität und gefährdeter Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
REZENSIONEN
Ansprache anlässlich der Vorstellung des Buches "Politische Identität und Geschichte - Nachdenken über unsere Zeit"
von Prof. Rolf Wernstedt, Präsident des Niedersächsischen Landtages
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
in einer seiner Reden ging Rolf Wernstedt gleich zu Beginn baden. Er hatte sich ein besonders schwieriges Thema ausgesucht - „Der ferne Goethe - oder was ist wesentlich" - und beginnt mit einem Zitat von Goethe: „Geht man einmal ernstlich (...in ein Thema...) hinein, so ist es vollkommen als wenn man ins Meer geriete. Indessen ist es doch auch angenehm, in einem so breiten Element zu schwimmen und seine Kräfte darin zu üben." Beim solcherart „Badengehen" ist Rolf Wernstedt nie ertrunken, in keiner seiner Reden. Dabei ist er in alle Themen, die er in den Reden dieses Buches aufgenommen hat, „ernstlich hineingegangen". Wernstedt kann seine Kraft richtig einschätzen. Von einem großen oder tiefen Gewässer halten ihn Respekt, Ehrfurcht oder gar Angst nicht fern, Er war und ist ein bemerkenswert guter Schwimmer. Was hat ihn dazu gemacht?
Rolf Wernstedt hat in der früheren DDR sein Abitur abgelegt - er beherrscht den klassischen Literaturkanon, in Biologie und Mathematik gab's auch im Westen nichts neues. Ihm fehlte im Osten jedoch neben der fremdsprachlichen Ausbildung die offene und nicht indoktrinative Diskussion gesellschaftlicher und politischer Fragen, wie er schreibt, „die mangelnde Fähigkeit mit Werte- und religiösen Fragen persönlich eigenverantwortlich umzugehen". Dieser Mangel hat seinen Ehrgeiz angestachelt: Gesellschaft und Politik, Werte und Normen zu diskutierten, ist heute sein Antrieb - tiefgehend, und nicht oberflächlich. Dies fordert Rolf Wernstedt auch von denen, die mit ihm im politischen Diskurs stehen: Er kritisiert in fast jeder seiner Reden in diesen oder ähnlichen Worten, „dass Denkmuster blind übertragen werden", Forderungen „besinnungslos abgeleitet werden", dass die „Sinnfrage vernachlässigt" oder „Gedanken ritualisiert" werden, Wernstedt ritualisiert nicht, vernachlässigt nicht, er ist sehr sorgfältig und schöpft aus breitem Wissen. Das Denken versteht er als Anwendung von Wissen - und so sind seine Reden faktenreich, detailliert, sie glänzen mit Bebilderung. Tiefes Wissen zeichnet den Redner Wernstedt aus.
Dieser „Erkenntnishunger" trieb ihn zum Geschichtsstudium in Göttingen. Er hörte viele der wortmächtigen Dozenten der ausgehenden 60er Jahre. Sie haben ihn geprägt er aber durchschaute häufig auch, dass die Macht der Worte allein nicht genügt. Denn Erkenntnis entspringt nicht großen Worten, sondern Wissen und Erfahrung. Die Erfahrung kennzeichnet so auch seine Reden. Aus dem persönlich Erlebten leitet Wernstedt viele Reden ein, und sie verankern seine Reden am Rednern, machen Wernstedt glaubwürdig und das Gesagte überzeugend. Trotz intellektueller Weite spricht er menschen- und publikumsnah.
Daraus schöpft er seine Autorität als Redner. Rolf Wernstedt kann ganz nebenbei in einer Redepassage über die Grundschule dem Bundespräsidenten „verhängnisvolle Denunzierung" vorwerfen. Mancher Redner könnte mit dieser Aussage seine politische Karriere beenden - Rolf Wernstedt aber kann - darf es niemand übel nehmen. Denn er spricht mit dreierlei Kraft: mit der Kraft des Erlebten, des Kraft des Wissen, und der Kraft der Worte. Ein kluger, moralischer Bürger äußert sich hier, der sauber, analytisch argumentiert, Aber das allein macht den „homo politicus" Rolf Wernstedt noch nicht aus. Der „homo politicus" ist mehr als das, was Wernstedt den „Kritisierer" nennt, mehr als der Intellektuelle, der anmahnt, aber nicht handelt - sich also typisch deutsch verhält.
Der „homo politicus" kümmert sich darüber hinaus, er beteiligt sich und gestaltet auch das, was außerhalb seiner Interessen liegt. Damit wird erzürn „Kritisierten", zum Ziel des Kritikers. Diese Arbeitsteilung zwischen Kritisierer und Kritisiertem hat Wernstedt erkannt- und für sich aufgehoben. Der eine mahnt an, der andere handelt und wirkt im Kraftfeld der Interessen -Wernstedt macht beides. Dahinter steht ein Gefühl von Verantwortung, das seine Reden ebenso kennzeichnet- beispielsweise Reden zum „Lernen aus der Geschichte", zu Ursachen des Folgen des Holocaust. Dieses Thema hat Wernstedt schon immer umgetrieben. „Das Urteil über die Vergangenheit als Zumutung für Gegenwart und Zukunft" hat er eine Rede überschrieben - dies steht dafür, dass Wernstedt mehr ist als der Intellektuelle Kritisierer. Während seiner Studienzeit in Göttingen hat Rolf Wernstedt erzählt, „dass er nicht im Sinne hatte, einmal hauptamtliche Politik zu machen". Er wurde Lehrer - mit hohem Interesse und Engagement für Politik. Aus dem Lehrer an der Schule wurde dann eine Art Lehrer im Parlamentarismus.
Rolf Wernstedt nutzt seine Position, um „über den Tag hinaus" - so der Titel seines Buches - den größeren Zusammenhang zu suchen und daraus Erkenntnis zu ziehen - und diese Weiterzugeben, ohne erhobenen Zeigefinger, Das mag auch Triebfeder gewesen sein für dieses Buch - der Redner Wernstedt legt Rechenschaft ab über das Gedachte und Gesagte.
Dieses Buch ist ein Gegengewicht zur Ästhetisierung von Politik, die mit Design, Reklame, Bildsymbolik den Menschen ablenkt von den bestehenden Verhältnissen. Der äußere Schein ist Wernstedts Sache nicht - er geht der Sache auf den Grund. Auch wenn die Wasser tief sind. Der Redner Wernstedt sagt - mit Goethe - über sich: „Es ist ziemlich gleichgültig, an welcher Stelle man ins Meer geht, es kommt nur darauf an, den angemessenen Zugang zu finden." Das ist richtig, aber eben nur aus der Sicht eines guten Schwimmers - der schlechte Schwimmer wird sich besser nicht von den Klippen ins Meer stürzen, Rolf Wernstedt wagt das dann und wann - und steigt ohne Blessuren wieder aus den Fluten.